"Only human after all "
Ein Wort - tausend Bedeutungen
von Annika Franz
Es ist drei Uhr nachmittags. Ein paar späte Sonnenstrahlen scheinen durch die samt grünen Vorhänge des Altbauzimmers im Leipziger Osten. Auf der Kommode in der Ecke ragt eine große Monstera in die Höhe. Unter einem der großen Blätter sitzt Erina und wischt den Schreibtisch mit einem Desinfektionstuch ab. Ihre langen, orangeroten Haare, in denen sich ein paar Dreads verstecken, hat sie zu einem Dutt gebunden. „Hygiene ist das Wichtigste, gerade weil ich so oft unterwegs bin und an abgedrehten Orten tätowiere“, sagt sie und streift sich schwarze Einmalhandschuhe über ihre Hände. Die 27-Jährige sticht schon seit einer ganzen Weile Tattoos, am liebsten selbst erstellte Designs und Zeichnungen. Mittlerweile ist sie dabei, sich eine Stirnlampe um den Kopf zu schnallen: „Ich will ja auch sehen, was ich da gleich tue“, lacht sie.
Erina bei einem ihrer Human-Tattoos.
Foto: Annika Franz
Das Zeichnen sei schon lange eine Leidenschaft von ihr. Mehrere Jahre studiert sie Freie Kunst im Bereich Malerei und Grafik an der Staatlichen Akademie der Künste in Karlsruhe und macht dort ihr Diplom. Dort gibt es auch die Möglichkeit, zum:r Meisterschüler:in ernannt zu werden. Dafür stellt Erina ein Projekt auf die Beine, welches sie bis heute begleiten soll . „Vor ein paar Jahren wollte ein Kumpel bei mir in der Heimat in Schwäbisch Hall gerne ein Tattoo mit dem Begriff „Human“ gestochen bekommen“, erzählt Erina. „Ich fand das damals schon cool, hab das dann aber gar nicht mehr so im Kopf gehabt. Dabei ist die Frage, was der Mensch eigentlich für eine Spezies ist und was das Wort „Mensch“ für jede einzelne Person bedeutet, sehr spannend.“ Erinas in den Gummihandschuhen steckende Hände huschen immer wieder aus ihrer großen braunen Tätowiertasche zum Tisch. Sie reiht ein Fläschchen nach dem anderen nebeneinander auf, alle gefüllt mit grünen und durchsichtigen, gelartigen Substanzen. „Vielleicht hat es auch mit meinen Reisen zu tun“. Erst vor kurzem hat sich die Tätowiererin einen eigenen VW-Bus gekauft und ausgebaut. Den will sie als mobiles Tattoostudio benutzen und von Ort zu Ort fahren. „Auf Reisen lernt man so unterschiedliche Menschen kennen. „Ich war auch mal länger in China, dort herrscht ein ganz anderes Selbstbild als hier“, erzählt Erina. „Die Individualität war dort gefühlt nicht so wichtig wie hier, wichtiger ist es, als Gruppe zu funktionieren.“ Durch das Treffen von Menschen unterschiedlichster Kulturen wurde für Erina schnell klar, wie sehr sich diese voneinander unterscheiden. Und so verfestigte sich eine Idee: The Human Project. Mittlerweile beschreibt Erina dieses Projekt folgendermaßen:
...Egal, wer man ist, woher man kommt, wohin man geht. Eines verbindet uns. Wir sind alle Menschen. Doch was bedeutet Mensch-Sein? Dieser Frage möchte ich nachgehen – zu Hause, wie in der Ferne. Den Teilnehmenden des Human Projects steche ich eine simple und dennoch besondere, sie alle miteinander verbindende Tätowierung: Das Wort „HUMAN“ – Mensch.
„Ich finde es sehr spannend, dass wir alle Menschen sind, aber trotzdem unterschiedliche Wahrnehmungen davon haben, was das ist“, meint Erina. Für sie ist das Wort selbst sehr bedeutend. Es frage weder nach Aussehen, Geschlecht, Herkunft, dem Glauben oder dem Alter. In Form einer Tätowierung sei es ein Kunstwerk, dass Menschen mit sich tragen. Für die Ewigkeit - oder zumindest die eigene Lebensspanne. „Es überschreitet Grenzen, ist in Bewegung – wie wir Menschen“.
Als Uni-Projekt gestartet ist „The Human Project“ jetzt ein Teil von Erinas Leben geworden. Bereits neun Personen, inklusive sich selbst, hat sie das Wort schon gestochen. In den unterschiedlichsten Schriftarten, je nachdem, womit sich die Menschen identifizieren können.
Mittlerweile hat Erina den Schreibtisch fertig vorbereitet. Beim Abwickeln des Kabels der Tätowiermaschine wird ihr eigenes „Human“ Tattoo sichtbar. Es befindet sich seitlich auf einem ihrer Finger. Sie hat es sich bei der Eröffnung einer Ausstellung in Rastatt in der "Fruchthalle-Städtische Galerie" letztes Jahr selbst gestochen – als Performance. „Wegen Hygiene-Bestimmungen konnte ich live leider keine andere Person tätowieren, da hab ich es dann einfach bei mir selbst gemacht." Heute heißt es auch für mich: Unter die Nadel. Lange überlegen wir, welche Schriftart sich eignet. Am Ende fällt die Wahl auf „Papyrus“. Auch wenn der Name etwas unspektakulär wirkt, fast jede Person wird diese Schrift schon einmal gesehen haben. Sie wurde für den Titel des Blockbusters AVATAR benutzt. Lange sprechen wir an diesem Tag noch über das Menschsein. Die aktuelle Ausgabe des Missy Magazins liegt aufgeschlagen vor mir, während ich auf dem Bauch liegend versuche, den Schmerz auszuhalten. Erina macht sich hochkonzentriert an meiner Wade zu schaffen. Ein Kapitel nach dem anderen lese ich vor. Es geht um künstliche Intelligenz. Können sich Menschen in KI verlieben? Oder gar nach ihrem Tod durch KI rekonstruiert und so wieder zum Leben erweckt werden? Es sind die großen Fragen der Digitalisierung und ihren Auswirkungen, die uns an diesem Nachmittag beschäftigen. Mittlerweile werden die Sonnenstrahlen, die sich durch die Vorhänge ins Zimmer hereinschleichen, immer länger. „Gleich haben wir’s“, meint Erina trocken zu mir. Mensch hin oder her, ich kann mittlerweile nicht mehr wirklich denken. Menschsein heißt, dass Tattoonadeln unter der Haut einfach wehtun.
Mein fertiges Human-Tattoo.
Foto: Erina
Wer hat diese Seite mit Inhalt gefüllt?
Annika ist Gründungsmitglied von ZWEINULLVIER und schreibt gerne über Klima, Popkultur und zwischenmenschliche Beziehungen.
"Only human after all "
Ein Wort - tausend Bedeutungen
von Annika Franz
Es ist drei Uhr nachmittags. Ein paar späte Sonnenstrahlen scheinen durch die samt grünen Vorhänge des Altbauzimmers im Leipziger Osten. Auf der Kommode in der Ecke ragt eine große Monstera in die Höhe. Unter einem der großen Blätter sitzt Erina und wischt den Schreibtisch mit einem Desinfektionstuch ab. Ihre langen, orangeroten Haare, in denen sich ein paar Dreads verstecken, hat sie zu einem Dutt gebunden. „Hygiene ist das Wichtigste, gerade weil ich so oft unterwegs bin und an abgedrehten Orten tätowiere“, sagt sie und streift sich schwarze Einmalhandschuhe über ihre Hände. Die 27-Jährige sticht schon seit einer ganzen Weile Tattoos, am liebsten selbst erstellte Designs und Zeichnungen. Mittlerweile ist sie dabei, sich eine Stirnlampe um den Kopf zu schnallen: „Ich will ja auch sehen, was ich da gleich tue“, lacht sie.
Erina bei einem ihrer Human-Tattoos.
Foto: Annika Franz
Das Zeichnen sei schon lange eine Leidenschaft von ihr. Mehrere Jahre studiert sie Freie Kunst im Bereich Malerei und Grafik an der Staatlichen Akademie der Künste in Karlsruhe und macht dort ihr Diplom. Dort gibt es auch die Möglichkeit, zum:r Meisterschüler:in ernannt zu werden. Dafür stellt Erina ein Projekt auf die Beine, welches sie bis heute begleiten soll . „Vor ein paar Jahren wollte ein Kumpel bei mir in der Heimat in Schwäbisch Hall gerne ein Tattoo mit dem Begriff „Human“ gestochen bekommen“, erzählt Erina. „Ich fand das damals schon cool, hab das dann aber gar nicht mehr so im Kopf gehabt. Dabei ist die Frage, was der Mensch eigentlich für eine Spezies ist und was das Wort „Mensch“ für jede einzelne Person bedeutet, sehr spannend.“ Erinas in den Gummihandschuhen steckende Hände huschen immer wieder aus ihrer großen braunen Tätowiertasche zum Tisch. Sie reiht ein Fläschchen nach dem anderen nebeneinander auf, alle gefüllt mit grünen und durchsichtigen, gelartigen Substanzen. „Vielleicht hat es auch mit meinen Reisen zu tun“. Erst vor kurzem hat sich die Tätowiererin einen eigenen VW-Bus gekauft und ausgebaut. Den will sie als mobiles Tattoostudio benutzen und von Ort zu Ort fahren. „Auf Reisen lernt man so unterschiedliche Menschen kennen. „Ich war auch mal länger in China, dort herrscht ein ganz anderes Selbstbild als hier“, erzählt Erina. „Die Individualität war dort gefühlt nicht so wichtig wie hier, wichtiger ist es, als Gruppe zu funktionieren.“ Durch das Treffen von Menschen unterschiedlichster Kulturen wurde für Erina schnell klar, wie sehr sich diese voneinander unterscheiden. Und so verfestigte sich eine Idee: The Human Project. Mittlerweile beschreibt Erina dieses Projekt folgendermaßen:
...Egal, wer man ist, woher man kommt, wohin man geht. Eines verbindet uns. Wir sind alle Menschen. Doch was bedeutet Mensch-Sein? Dieser Frage möchte ich nachgehen – zu Hause, wie in der Ferne. Den Teilnehmenden des Human Projects steche ich eine simple und dennoch besondere, sie alle miteinander verbindende Tätowierung: Das Wort „HUMAN“ – Mensch.
„Ich finde es sehr spannend, dass wir alle Menschen sind, aber trotzdem unterschiedliche Wahrnehmungen davon haben, was das ist“, meint Erina. Für sie ist das Wort selbst sehr bedeutend. Es frage weder nach Aussehen, Geschlecht, Herkunft, dem Glauben oder dem Alter. In Form einer Tätowierung sei es ein Kunstwerk, dass Menschen mit sich tragen. Für die Ewigkeit - oder zumindest die eigene Lebensspanne. „Es überschreitet Grenzen, ist in Bewegung – wie wir Menschen“.
Als Uni-Projekt gestartet ist „The Human Project“ jetzt ein Teil von Erinas Leben geworden. Bereits neun Personen, inklusive sich selbst, hat sie das Wort schon gestochen. In den unterschiedlichsten Schriftarten, je nachdem, womit sich die Menschen identifizieren können.
Mittlerweile hat Erina den Schreibtisch fertig vorbereitet. Beim Abwickeln des Kabels der Tätowiermaschine wird ihr eigenes „Human“ Tattoo sichtbar. Es befindet sich seitlich auf einem ihrer Finger. Sie hat es sich bei der Eröffnung einer Ausstellung in Rastatt in der "Fruchthalle-Städtische Galerie" letztes Jahr selbst gestochen – als Performance. „Wegen Hygiene-Bestimmungen konnte ich live leider keine andere Person tätowieren, da hab ich es dann einfach bei mir selbst gemacht." Heute heißt es auch für mich: Unter die Nadel. Lange überlegen wir, welche Schriftart sich eignet. Am Ende fällt die Wahl auf „Papyrus“. Auch wenn der Name etwas unspektakulär wirkt, fast jede Person wird diese Schrift schon einmal gesehen haben. Sie wurde für den Titel des Blockbusters AVATAR benutzt. Lange sprechen wir an diesem Tag noch über das Menschsein. Die aktuelle Ausgabe des Missy Magazins liegt aufgeschlagen vor mir, während ich auf dem Bauch liegend versuche, den Schmerz auszuhalten. Erina macht sich hochkonzentriert an meiner Wade zu schaffen. Ein Kapitel nach dem anderen lese ich vor. Es geht um künstliche Intelligenz. Können sich Menschen in KI verlieben? Oder gar nach ihrem Tod durch KI rekonstruiert und so wieder zum Leben erweckt werden? Es sind die großen Fragen der Digitalisierung und ihren Auswirkungen, die uns an diesem Nachmittag beschäftigen. Mittlerweile werden die Sonnenstrahlen, die sich durch die Vorhänge ins Zimmer hereinschleichen, immer länger. „Gleich haben wir’s“, meint Erina trocken zu mir. Mensch hin oder her, ich kann mittlerweile nicht mehr wirklich denken. Menschsein heißt, dass Tattoonadeln unter der Haut einfach wehtun.
Mein fertiges Human-Tattoo.
Foto: Erina
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Annika ist Gründungsmitglied von ZWEINULLVIER und schreibt gerne über Klima, Popkultur und zwischenmenschliche Beziehungen.